Jens wird zu Nina – und verliert das Erbe?

Geschlechtsidentität vs. Testament

 

Der Fall: Ein Testament, zwei Namen, viele Fragen

Der Fall klingt auf den ersten Blick ganz einfach, doch er ist juristisch und menschlich hochkomplex.

Ein Vater formuliert in seinem Testament – ganz klassisch, handschriftlich, in bester Absicht:

„Ich setze meine Tochter Sabine und meinen Sohn Jens zu gleichen Teilen zu meinen Erben ein.“

Was danach geschieht, hat er vermutlich nicht vorhergesehen: Jens, sein Sohn, trifft eine Lebensentscheidung, die alles verändert – äußerlich und amtlich. Er lebt fortan als Frau und trägt den Namen Nina. Die amtliche Geschlechts- und Namensänderung erfolgte früher nach dem Transsexuellengesetz (TSG). Seit dem 1. November 2024 gilt jedoch das neue Selbstbestimmungsgesetz (SBBG), das diesen Weg deutlich vereinfacht: Eine Änderung von Vornamen und Geschlecht ist nun durch einfache Erklärung beim Standesamt möglich – ohne gerichtliches Verfahren und ohne Gutachten.

Doch zurück zum Fall: Der Vater passt das Testament nicht mehr an. Er stirbt. Und mit seinem Tod entfaltet sich nicht nur das Erbrecht, sondern eine neue Unsicherheit: Ist Nina als Erbin gemeint – oder ist die Erbeinsetzung des „Sohnes Jens“ damit hinfällig?

Die Familie ist uneins. Die Schwester Sabine sieht sich plötzlich als Alleinerbin. Nina hingegen fühlt sich ausgeschlossen – nicht durch den Vater, sondern durch die Formulierung eines alten Textes, der ihrem neuen Leben nicht gerecht wird

Die Rechtslage: Keine Klarheit, kein BGH, viel Auslegung

Was sagt das Gesetz? Erst einmal: nichts Konkretes. Weder im BGB noch im Selbstbestimmungsgesetz findet sich eine Regelung, die diese Konstellation ausdrücklich auflöst.

Und: Der Bundesgerichtshof hat zu genau diesen Fällen bislang keine Entscheidung gefällt. Das macht die Situation unsicher – für Angehörige, für Erblasser, für beratende Jurist:innen.

Es bleibt nur eines: die Auslegung nach § 133 BGB. Dort heißt es schlicht, aber grundlegend:

„Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.“

Mit anderen Worten: Die Frage ist nicht, was der Vater geschrieben hat, sondern was er wirklich wollte.

Die Auslegung: Ist „Jens“ = „Nina“?

Was bedeutet das nun praktisch? Es geht um Identität. Um Kontinuität trotz äußerer Veränderung.

Für die Einbeziehung von Nina spricht:

Die Gleichstellung beider Kinder liegt offensichtlich nahe – die Tochter Sabine wird namentlich genannt, ebenso der „Sohn Jens“.

Die Geschlechts- und Namensänderung hat keinen Einfluss auf die rechtliche Abstammung. Nina ist nach wie vor leibliches Kind des Erblassers.

Das BVerfG und der EGMR betonen den Schutz der Persönlichkeitsrechte auch bei Transidentität – das müsste auch im Erbrecht Niederschlag finden.

Dagegen könnte man einwenden:

Die explizite Bezeichnung als „Sohn“ lasse auf eine geschlechtsbezogene Vorstellung schließen.

Wenn nachweisbar ist, dass der Vater mit dem Wechsel nicht einverstanden war oder dies nicht akzeptierte, könnte das ein Auslegungsargument sein.

Es fehlt eine neutrale Formulierung wie „meine Kinder“ oder „meine Abkömmlinge“, die diese Diskussion überflüssig gemacht hätte.

Ein Gericht müsste also prüfen: War es dem Vater wichtig, dass Jens ein Sohn ist? Oder wollte er einfach beiden Kindern etwas hinterlassen – unabhängig von Geschlecht und Identität?

Handlungsmöglichkeiten für Erben: Was kann Nina tun?

Wer – wie Nina – betroffen ist, kann aktiv zur Klärung beitragen:

Beweise und Zeugenaussagen sammeln: Gab es Gespräche mit dem Vater, die erkennen lassen, dass er auch Nina bedenken wollte?

Formulierungen im Testament im Gesamtzusammenhang betrachten: Gibt es weitere Hinweise, die für eine geschlechtsunabhängige Erbeinsetzung sprechen?

Auch Umstände außerhalb des Testamentes, z.B. Briefe, WhatsApp, etc. können aufschlussreich sein

Frühzeitig anwaltliche Beratung einholen: Die Durchsetzung einer Erbenstellung kann von sorgfältiger Argumentation abhängen – schriftlich und persönlich, besonders in Auslegungsfragen.

Oft entscheiden Details und persönliche Dokumentation darüber, wie ein Testament auszulegen ist.

Handlungsmöglichkeiten für Erblasser:innen: Wie formuliere ich richtig?

Wer ein Testament erstellt oder aktualisiert, sollte Klartext sprechen – mit Blick auf Identität, Respekt und rechtliche Sicherheit:

Keine rollenbezogenen Begriffe: Statt „mein Sohn Jens“, lieber „mein Kind Jens“ oder „meine Kinder“.

Vermerk zur Offenheit: Eine Ergänzung wie „unabhängig von Namen, Geschlecht oder Identität“ kann spätere Auslegungsprobleme vermeiden.

Regelmäßige Aktualisierung des Testaments, besonders bei familiären oder gesellschaftlichen Veränderungen.

Wer testiert, trifft eine Entscheidung für die Zukunft – also sollte auch die Sprache zukunftsfähig sein.

Der Sonderfall: Was, wenn Nina später wieder Jens wird?

Auch das ist denkbar – und rechtlich zulässig. Nach deutschem Recht kann die Geschlechtsänderung auch wieder rückgängig gemacht werden. Aber was passiert dann mit dem Erbe?

Juristische Antwort: nichts. Die Testamentsauslegung bezieht sich ausschließlich auf den Zeitpunkt des Erbfalls. Was danach geschieht, ist für die Frage der Erbenstellung irrelevant. Der einmal entstandene Erbanspruch bleibt bestehen – auch wenn sich das Leben weiter verändert.

Fazit: Wer testiert, sollte weiter denken als früher

Testamente sind oft einfach formuliert – aber die Welt ist nicht mehr einfach. Geschlecht, Name, Lebensentwürfe: all das ist im Wandel. Das Recht tut sich schwer damit – vor allem, wenn die Sprache des Testaments nicht mehr zur Realität passt.

Die Empfehlung an alle Erblasser:innen lautet daher:

Formulieren Sie Ihr Testament so, dass Menschen gemeint sind – nicht Kategorien.

Ein Beispiel:

„Ich setze meine Kinder Sabine und Jens (heute: Nina), unabhängig von Namen, Geschlecht oder Identität, zu gleichen Teilen zu meinen Erben ein.“

Oder allgemeiner:

„Ich setze meine Kinder, unabhängig von ihrer Lebensform oder äußeren Identität, zu gleichen Teilen zu meinen Erben ein.“

Das schafft Sicherheit. Für die Erben – und für den Willen des Erblassers.

Schlussüberlegung: Identität endet nicht am Rand des Testaments

Dieser Fall ist juristisch noch kaum entschieden – aber gesellschaftlich hochrelevant. Wer sich heute mit dem Thema Erbe beschäftigt, sollte wissen:

Es geht nicht mehr nur um materiellen Besitz, sondern auch um Anerkennung.

Wer mitdenkt, schützt seinen Willen.

Wer nichts sagt, riskiert Streit, Ausschluss und Verletzung.

Wenn Sie ein Testament formulieren oder anpassen wollen – oder wenn Sie sich fragen, ob Sie trotz Namens- oder Geschlechtsänderung noch gemeint sind:

Wir beraten Sie vertraulich, menschlich und mit über 36 Jahren Erfahrung im Erbrecht.

 

Rechtsanwalt Jürgen Wabbel
Rechtsanwalt Jürgen Wabbel
Fachanwalt für Familienrecht & Erbrecht, Mediator in Braunschweig