Privates Baurecht: Schutzlosigkeit des Auftraggebers bei Mängeln am Bauvorhaben vor Abnahme?

1. Der Fall:

Ein Auftraggeber beauftragt ein Bauunternehmen mit der Errichtung eines großen Bürogebäudes.

Im Bauvertrag ist eine Fertigstellungsfrist von 24 Monaten vereinbart.

Nach Errichtung des Rohbaus, vor Estrichlegung und (weit) vor Fertigstellung stellt ein seitens des Auftraggebers hinzugezogener Sachverständiger erhebliche Mängel in Form von Rissbildungen in den Betonfertigteilen der Geschossdecken fest.

Der Auftraggeber rügt diese Mängel gegenüber dem Unternehmen und fordert die unverzügliche Nachbesserung.

Das Unternehmen führt lapidar aus, die „Mängel seien ihm bekannt“, „derzeit“ müsse es jedoch der Mängelbeseitigung nicht nachkommen.

 

2. Die Problemstellung:

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19.01.2017 – Az. VII U 301/13 entschieden, dass dem Auftraggeber im Stadium der Erfüllung vor Abnahme des Gewerks grundsätzlich keine Mängelrechte zustehen sollen.

Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Anspruch auf Erfüllung vor Abnahme und den erst nach Abnahme entstehenden Mängelrechten in Form der Nacherfüllung, Selbstvornahme / Kostenvorschuss, Schadensersatz, Rücktritt oder Minderung.

Der BGH führt unter Verweis auf die Systematik des Werkvertragsrechts aus, dass dem Besteller vor Abnahme grundsätzlich keine Mängelrechte, sondern nur das Recht auf die Erfüllung zustehe; ob das Gewerk mangelhaft ist, sprich nicht vertragsgemäß und / oder den anerkannten Regeln der Technik entsprechend errichtet wurde, bestimmt sich erst zum Zeitpunkt der Abnahme. Vor Abnahme wäre der Auftraggeber durch die Rechte aus dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht hinreichend geschützt.

 

3. Dies führt zwangsläufig zu der alles entscheidenden Frage:

Kann es denn richtig sein, dass dem Besteller vor Abnahme überhaupt kein Recht zur Mangelbeseitigung zusteht bzw. ist der Auftraggeber in diesem Stadium schutzlos?

Muss damit der Auftraggeber im o.a. Fall daher tatsächlich dulden, dass die Rissbildung durch den anschließenden Fußbodenaufbau „kaschiert“ wird?

Ist der Auftraggeber weiterhin gezwungen, in Kenntnis eines erheblichen Mangels die Abnahme (unter Mangelvorbehalt) zu erklären, um die Mängelbeseitigung zu verlangen?

Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein. Entscheidend ist jedoch der Einzelfall. Zudem ist zu bedenken, ob die Konsequenzen für den Besteller gewollt sind:

 

4. Vertragstypus maßgeblich

Zunächst muss unterschieden werden, ob dem Bauvertrag die Vertragsordnung für Bauleistungen Teil B (VOB/B) zugrunde liegt oder ob es sich um einen „klassischen“ BGB-Werkvertrag handelt.

Ist die VOB/B Vertragsbestandteil, stellt sich die weitere Frage, ob diese als Ganzes, sprich unverändert, gelten soll (vorweggenommen: was in der Praxis so gut wie nie vorkommt).

 

a.) Nach § 4 Abs.7 S.1 VOB/B ist der Besteller nämlich befugt, dem Auftragnehmer bereits vor Abnahme eine Frist zur Beseitigung eines Mangels zu setzen.

Der Auftraggeber kannmuss jedoch nicht – diese Aufforderung mit der Ankündigung, er werde nach Ablauf der Frist den Bauvertrag kündigen (§§ 4 Abs.7 S.3, 8 Abs.3 VOB/B) verbinden.

Kommt der Auftragnehmer dann in letztgenannten Fall der Aufforderung nicht nach, kann der Auftraggeber die Kündigung aussprechen und dann die Leistung selbst auf Kosten des Auftragnehmers fertigstellen lassen.

Wichtig: Ohne Hinweis / Ankündigung der Entziehung des Auftrages ist die Kündigung nach vorgenannten Regelungen unwirksam!

 

b.) Dies gilt jedoch nur dann, wenn die VOB/B unverändert – „als Ganzes“ – dem Bauvertrag zugrunde gelegt wird:

Der BGH hat in einem weiterem Urteil – BGH, Urteil vom 19.01.2023, Az. VII ZR 34/20 – entschieden, dass ansonsten sowohl die Regelung in § 4 Abs.7 S.3 VOB/B (Androhung der Kündigung) und § 8 Abs.3 VOB/B unwirksam sind. Begründet wird dies wiederum damit, dass dem Wortlaut nach die Kündigungsbefugnis unbeschränkt beim Vorliegen eines „Mangels“ gewährt würde. Im Fall des BGH ging es um ein Bauvorhaben mit einem Volumen von mehreren Millionen Euro; die Mängelbeseitigungskosten für den gerügten Mangel beliefen sich dagegen auf ca. 6.000,00 EUR.

 

5. (Außerordentliche) Kündigung; Bestehen eines Abrechnungsverhältnisses

Sollte danach dem Bauvertrag die VOB/B nicht als Ganzes zu Grunde gelegt sein, ist dem Auftraggeber vorstehende Möglichkeit versagt.

Der Auftraggeber muss dann genau überlegen, wie er vorgehen will. Ist der Auftragnehmer mit der ordnungsgemäßen Herstellung noch nicht im Verzug (so wie im vorstehend genannten Fall), ist eine Aufforderung zur (ordnungsgemäßen) Erfüllung inhaltlich leerlaufend.

Der Auftraggeber ist aufgrund des auf dem Bau herrschenden Kooperationsgebot verpflichtet, mangelhafte Umstände unverzüglich anzuzeigen. Es steht ihm grundsätzlich auch frei, bis zur Klärung, wie mit dem Mangel umgegangen wird, einen Baustopp zu verhängen. Abhängig von der Reaktion des Auftragnehmers, z.B. im Rahmen einer Baubesprechung, sollte der Auftraggeber die Möglichkeiten einer außerordentlichen Kündigung in Betracht ziehen, wenn die Voraussetzungen hierfür gegeben sind; der BGH lässt diese Möglichkeit ausdrücklich zu (§§ 314, 648a BGB bzw. Rechtsgedanke des § 323 Abs.4 BGB). Die Frage, ob ein Recht zur außerordentlichen Kündigung auf Seiten des Bestellers besteht, ist eine Entscheidung des Einzelfalls und bedarf daher einer genauen Prüfung; relevant hierfür sind u.a. die Fragen, wie schwerwiegend die Mängel wiegen und wie der Auftragnehmer auf die (berechtigte) Mängelrüge reagiert hat.

Der BGH bejaht ausdrücklich im Rahmen der Entscheidung vom 19.01.2017 das Bestehen von Mängelrechten jedenfalls dann, wenn ein sog. Abrechnungsverhältnis besteht. Dies ist nach der Rechtsprechung wiederum dann der Fall, wenn der Auftraggeber dem Auftragnehmer gegenüber unmissverständlich und endgültig zum Ausdruck bringt, unter keinen Umständen mehr mit ihm zusammenzuarbeiten, da das Vertrauen endgültig zerrüttet ist; dies z.B. aufgrund einer beharrlichen Weigerung, (erhebliche) Mängel zu beseitigen.

In diesem Fall kann der Auftraggeber Mängelrechte gegenüber dem Auftragnehmer auch bereits vor Abnahme geltend machen; Anspruch auf weitergehende Erfüllung steht ihm dann allerdings nicht zu.

 

6. Dokumentation des Bautenstandes

Wählt der Auftraggeber die Kündigung bzw. gelangt man durch Auslegung des Verhaltens zum Bestehen eines Abrechnungsverhältnisses, sollte der Leistungsstand des in der Erfüllungsphase „steckengebliebenen“ Bauvertrages unbedingt, zumindest durch einen Privatgutachter, umfassend dokumentiert werden; dies nicht nur in Bezug auf etwaige Mängel, sondern in Bezug auf den Bautenfertigstellungsgrad, da auch Fertigstellungsmehrkosten bei Vergabe an ein Drittgewerk entstehen können.

 

Zudem ist dringend anzuraten, vor vorschnellem Handeln oder gar Ausspruch einer Kündigung die Sach- und Rechtslage von einem auf das Bau- und Architektenrecht versierten Fachanwalt prüfen zu lassen, da die Umstände des Einzelfalles genau zu prüfen sind und zudem die Möglichkeit besteht, eine unwirksame (außerordentliche) Vertragskündigung in eine „freie“ Bestellerkündigung umzudeuten, wonach dem Auftragnehmer neben der Vergütung für die erbrachten Leistungen weitere Vergütung (Gesamtvergütung abzüglich ersparter Aufwendungen und anderweitigem Erwerb, mindestens jedoch 5 %) zustehen.

 

7. Wahl des Mangelrechts

Kann der Auftraggeber Mängelrechte geltend machen, stellt sich die nächste Frage, wie er verfahren will. Nach fruchtlosem Verstreichen einer Frist zur Nacherfüllung steht dem Besteller insbesondere das Recht zur Ersatzvornahme zu; er kann den Mangel selbst (durch ein Drittgewerk) beseitigen lassen und die Kosten dem Auftragnehmer in Rechnung stellen; etwaig nicht bezahlter Werklohn ist in Abzug zu bringen / anzurechnen; dem Besteller steht es auch frei, im Vorfeld der Mängelbeseitigung Geld vom Auftragnehmer einzufordern, dass er zweckgebunden für die Mängelbeseitigung aufzuwenden hat (sog. Kostenvorschuss zur Mängelbeseitigung

Alternativ hierzu kann der Auftraggeber auch Schadensersatz geltend machen. Aber Vorsicht!

Der BGH hat in einer weiteren Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2018 (BGH, Urteil vom 22.02.2018 – Az. VII 46/17) für das Werkvertragsrecht entschieden, dass der Auftraggeber keine fiktiven Mängelbeseitigungskosten geltend machen kann; er kann daher nicht die Nettomangelbeseitigungskosten vom Auftragnehmer verlangen und die Mängel nicht beseitigen; insofern hat der BGH seine bisherige Rechtsprechung unter Hinweis auf die Gefahr einer Mißbräuchlichkeit bzw. Überkompensation der Auftraggebers ausdrücklich aufgeben.

Zu beachten ist, dass diese Unwirksamkeit nur für das private Baurecht und nicht für das Kaufrecht, so z.B. beim Erwerb einer Gebrauchtimmobilie, gilt (BGH, Urteil vom 12.03.2021 – Az. V ZR 33/19).