1. Der Fall

Die Geschichte, die sich in einer deutschen Kleinstadt ereignete, ist von Anfang an von Dramatik und Tragik geprägt. Eine junge Frau Lea S., gerade mal 22 Jahre alt, befand sich plötzlich in einem rechtlichen Konflikt,der für sie von enormer Bedeutung war.  Die Tragödie begann Jahre zuvor, als der Vater der Klägerin verstarb, als sie gerade 17 Jahre alt war. Dieser Verlust war nicht nur ein einschneidendes Erlebnis, sondern sollte der Auftakt zu einem komplexen Erbstreit werden, der ihr Leben nachhaltig beeinflussen sollte.

Der Großvater, ein vermögender Mann, hinterließ als einzige Verwandte in gerader Linie die junge Frau und ihren Onkel, den Bruder ihres verstorbenen Vaters. Etwa zwei Jahre vor seinem tragischen Tod durch Suizid hatte der Großvater ein handschriftliches Testament verfasst. In diesem Dokument bestimmte er den Onkel zu seinem Alleinerben, nachdem dieser ihn oft besucht und ihm bezüglich eines Testaments „gut zugeredet“ hatte.

Das Vermögen des Großvaters erstreckte sich über mehrere Bankkonten, auf denen sich 120.000,00 € befanden. Doch sein größter Schatz war eine wunderschöne Villa in bevorzugter Lage. Ein Anwesen, das nicht nur durch seine Schönheit, sondern auch durch seine geschichtsträchtige Vergangenheit glänzte. Ein Jahr vor seinem Ableben traf der Opa dann eine Entscheidung von großer Tragweite. Er beschloss, die Villa zu verkaufen, und fand einen Käufer – die Ehefrau des Onkels. Der Verkaufspreis betrug 300.000,00 €, was angesichts der Lage und des Zustands der Villa ein absolutes Schnäppchen war.

Die Angelegenheit nahm richtig Fahrt auf, als Lea ihren Pflichtteil aus dem Erbe ihres Großvaters beanspruchen wollte.  Dazu forderte sie ihren Onkel in einem freundlichen Schreiben auf, Auskunft zu erteilen über den Nachlass des Großvaters, nachdem der Onkel sein Erbe schon angetreten hatte. Darauf bekam sie dann die Antwort, dass der Onkel selbstverständlich den Nachlass fair abwickeln wolle und dass sie bekommen werde, was ihr zusteht.  Er listet der die Bankkonten auf sowie einige alte Möbel ohne Wert und persönliche Gegenstände, ebenfalls ohne Wert. Auf den Konten befanden sich noch 400.000,00 €. Der Onkel rechnete auch sogleich aus, dass der Pflichtteil der Enkelin 25 % beträgt und fragte an, wohin er den Pflichtteil von 100.000,00 € überweisen soll. Auf Nachfrage der Enkelin, wo die Villa verblieben sei, antwortete der Onkel kurz und knapp, diese gehöre nicht mehr in den Nachlass, weil sie zu Lebzeiten des Großvaters verkauft wurde. Der Verkaufspreis habe schließlich auch den Kontostand erhöht; anschließend überwies er 100.000,00 € und erklärte die Angelegenheit für erledigt. Er forderte die Enkelin sogar auf, ihm eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie damit hinsichtlich aller Ansprüche in Bezug auf das Erbe des Großvaters ein für alle Mal abgefunden sei.

Weil dies der Enkelin nicht ausreichte und sie die Erklärung auch nicht unterschreiben wollte, suchte sie anwaltliche Unterstützung und nachdem der Onkel zu keinerlei weiteren Zugeständnissen bereit war, ging die Sache vor Gericht.

 

  1. Die Entscheidung

In einem ähnlich gelagerten Fall hatte das Landgericht der dortigen Klägerin recht gegeben, während die zweite Instanz, das Oberlandesgericht, der Meinung war, dass die Klägerin nach Verkauf der Immobilie kein schutzwürdiges Interesse an der Wertermittlung mehr habe. Der maßgebliche Wert sei bereits durch den Kaufpreis festgelegt.

Der BGH entschied dann in letzter Instanz, dass die Klägerin sehr wohl ein berechtigtes Interesse an der Wertermittlung hatte, insbesondere angesichts der erheblichen Differenz zwischen dem Kaufpreis und den von ihr selbst vorgenommenen Schätzungen. Der Kaufpreis allein konnte nicht als verbindlicher Wert herangezogen werden ( BGH, Urteil vom 29.09.2021 – IV ZR 328/20).

Pflichtteilsberechtigte haben grundsätzlich das Recht auf Auskunft über den tatsächlichen Nachlassbestand zum Zeitpunkt des Erbfalls. Das bedeutet, sie dürfen wissen, welche Vermögenswerte und Verbindlichkeiten im Nachlass enthalten sind. Diese Informationen sind entscheidend, um den Pflichtteilsanspruch korrekt berechnen zu können.

Darüber hinaus haben Pflichtteilsberechtigte das Recht, Informationen darüber zu erhalten, ob und in welchem Umfang der Verstorbene Schenkungen an andere Personen gemacht hat. Dies ist von großer Bedeutung, da Schenkungen den Pflichtteil mindern können. Schenkungen können mehr sein als nur großzügige Geschenke ohne Gegenleistung. Im erbrechtlichen Kontext zählen auch Zuwendungen dazu, für die eine Gegenleistung erbracht wurde, die jedoch nicht dem vollen Wert der Zuwendung entspricht. Diese werden als „gemischte Schenkungen“ bezeichnet und müssen ebenfalls offengelegt werden.

Entsprechend wurde der Onkel zu einer vollständigen Auskunft verurteilt, und zwar in Form eines notariellen Nachlassverzeichnisses – in dessen Rahmen dann auch der Kaufvertrag mit der Frau des Onkels offengelegt wurde.

In einem weiteren Schritt verlangte Lea dann von dem Onkel, dass er ein Verkehrswertgutachten vorlegen soll, um den Wert der Villa objektiv ermitteln zu lassen. Gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) hatte sie das Recht, die Wertermittlung der Immobilie zu verlangen. Dieser Anspruch sollte ihr die Möglichkeit geben, das Risiko eines Rechtsstreits über den Pflichtteil besser einschätzen zu können.

Nun kann der Onkel auf eine ganz kreative Idee. Er verweigerte die Wertermittlung, weil – so seine Argumentation – die Villa ja überhaupt nicht mehr vorhanden sei, weder bei dem Großvater noch bei ihm und seine Ehefrau habe mit dem gesamten Erbe als Käuferin nichts zu tun, sodass ihr nicht zugemutet werden könne, eine Begutachtung zu dulden.

Das Gericht stand vor der Aufgabe, zu klären, ob der Anspruch auf Wertermittlung bestehen blieb, obwohl der Beklagte behauptete, das Grundstück sei worden.  Die Richter gaben der Klägerin recht und verurteilten den Onkel, den Wert der Immobilie durch einen unparteiischen Sachverständigen, der über die erforderliche Expertise verfügt ermitteln zu lassen. Nicht erforderlich war nach Ansicht des Gerichts, dass sich um einen gerichtlich vereidigten Sachverständigen handeln muss.

Deutlich klargestellt hat das Gericht außerdem, dass der Beklagte das Recht der Klägerin auf eine Wertermittlung nicht mit dem Argument aushebeln kann, dass die Immobilie weder im Nachlass noch in seinem Vermögen vorhanden sei. Das Recht des pflichtteilsberechtigten, seine Chancen und Risiken einschätzen zu können, bevor er seinen Anspruch beziffert ist höher zu bewerten als die Befindlichkeiten der neuen Eigentümer der Immobilie.

Das Ergebnis: Die Villa in bester Lage wurde durch den Sachverständigen auf einen Verkehrswert von 1.500.000,00 € geschätzt. Damit kam ans Licht, dass eine gemischte Schenkung vorgelegen hat und der geschenkte Anteil weitere 1,2 Million € betragen hat. Damit erhöhte sich der Anspruch der jungen Frau um weitere 300.000,00 € und ermöglichte ihr nicht nur ihr Studium zu finanzieren, sondern auch eine Eigentumswohnung für sich und ihre Mutter zu erwerben.

   3. Learnings aus diesem Fall

  • a) Die Auskunftsrechte des Pflichtteilsberechtigten gehen oft weiter, als dies allgemein bekannt ist und nur wer seine Rechte kennt, kann sie auch durchsetzen. Derjenige, der Pflichtteilzahlungen vermeiden oder möglichst klein halten will hat wenig oder kein Interesse daran, von sich aus und ungefragt für ihn ungünstige Fakten preiszugeben.
  • b) Die Auskunftsrechte sollen dem Pflichtteilsberechtigten gerade die Last nehmen, seinen Zahlungsanspruch nur zu schätzen und eventuell dann am Ende des Tages teilweise zu unterliegen und ein Teil der Prozesskosten tragen zu müssen. Der Auskunftsanspruch soll vielmehr den Berechtigten in die Lage versetzen, selbst, bzw. mit professioneller Unterstützung seinen Anspruch einschätzen zu können.
  • c) Auch wenn sich eine Immobilie nicht mehr im Nachlass befindet, zum Beispiel weil sie zu Lebzeiten verkauft oder verschenkt worden ist, besteht trotzdem ein Anspruch auf Wertermittlung durch einen Sachverständigen. Die Kosten für den Sachverständigen werden vom Wert des Nachlasses abgezogen.
Rechtsanwalt Jürgen Wabbel
Rechtsanwalt Jürgen Wabbel
Fachanwalt für Familienrecht & Erbrecht, Mediator in Braunschweig